CHARLIE CHAPLIN in EASY STREET Poster
EINMALIG 3/5
Easy Street – Chaplin holt die andere,
bisher vergrabene Welt seiner frühen Jahre erstmals
ans Kinolicht. Mit bissig-ironischem Unterton,
was dem Rückgriff auf die eigene Kindheit eine luftige
Frechheit verleiht. Clippings.
Fritz Hirzel, Chaplins Schatten.
Bericht einer Spurensicherung. Zürich 1982
Hier, bei Essanay, hatte Chaplin vierzehn Filme gedreht;
er hatte Bedingungen vorgefunden, die es ihm erlaubten sich
für einen Zweiakter drei Wochen Zeit zu nehmen, gute
Bedingungen, mit jenen bei Keystone verglichen.
Das ambitiöseste Projekt jedoch, ein Spielfilm, den er Life
hatte nennen wollen, war liegen geblieben.
Und dies vermutlich nicht nur, weil der Zwang, mit den
Zweiaktern jeweils pünktlich fertig zu werden, zu viele
Energien auf sich zog und Chaplin sich mit einem nebenher
gedrehten Spielfilm übernehmen musste, denn auch
inhaltlich war Life ein überaus ambitiöses Unterfangen: der erste,
womöglich verfrühte Versuch Chaplins nämlich, das
Reservoir seiner Kindheitserinnerungen in South London für
den Film nutzbar zu machen.
Anscheinend wollte er die Figur des Charlie erstmals
gesellschaftlich bedeutend tiefer situieren, als Stadtstreicher
unter menschlichen Elendshaufen und Wracks. Denn
alles, was wir aus Life kennen, sind die Passagen aus einem
Obdachlosenasyl, in welchem Charlie mitten unter
Gestrandeten, unter Säufern und Tagedieben, übernachtet.
Hier, in dieser ungemütlichen, ja bedrohlichen
Bettnachbarschaft, verhält er sich überaus gewitzigt. Etwa mit
dem Einfall, sich vorsichtshalber verkehrt unter die
Bettdecke zu legen, mit dem Kopf am Fussende, das Schuhwerk
zum Gegenschlag über die Fäuste gestülpt.
Doch bei diesen Fragmenten, diesem einsamen Vorgriff
auf Easy Street und The Kid, war es offenbar auch geblieben.
Rückgriff
Doch bevor das Jahr, dieses für ihn so erfolgreiche 1916,
allmählich zu Ende ging, wandte Chaplin sich erstmals der Welt
seiner Kindheit zu, nachdem er noch beim Anblick des
Dekors zu The Pawnshop in unschuldsvoller Betroffenheit
geäussert hatte, er fühle sich an die Kehrseite seines
Lebens erinnert.
Im Lone Star–Mutual Studio hatte er zu seinem nächsten
Film die Szenerie bauen lassen, die enge, auf drei Seiten
von Backsteinhäusern flankierte Gasse eines Slumbezirks, welche
den Betrag von 10 000 Dollar gekostet haben soll, eine für
einen halbstündigen Film ungewöhnliche Summe.
Die Kulisse gehörte zu Easy Street, der Mutual-Komödie,
mit der er als erstes im neuen Jahr herauskam, im Januar 1917
dann. Inspiriert waren die Filmbauten erklärtermassen
von Chaplins Erinnerungsbild an South London.
Und tatsächlich, wenn man sie mit dem Foto jener in der
Nähe von Schlachthof und Haywards Konservenfabrik gelegenen
Gasse hinter Kennington Cross verglich, jener Foto, mit der
Chaplin später eine der bedrückenden Adressen seiner Kindheit
dokumentierte, so war eine gewisse Ähnlichkeit unverkennbar.
In Easy Street holte er diese andere, bisher vergrabene
Welt seiner frühen Jahre erstmals ans Kinolicht, wenn
auch vorerst mit einem bissig-ironischen Unterton und weniger
darauf bedacht, wie später in A Dog‘s Life und The Kid,
sie auch atmosphärisch zu vergegenwärtigen, was diesem ersten
Rückgriff aufs autobiographische Hinterland eine luftige
Frechheit verlieh.
Gestrandet
Easy Street, das war beim Kinostart von 1917 noch recht
erstaunlich, begann mit Charlie, der als Gestrandeter
ins Bild kommt, abgerissen, ohne Arbeit, um einen Job auch
gar nicht bemüht.
So gerät er unter die zum Gottesdienst Versammelten,
die sich im Lokal der Hope Mission eingefunden haben,
einer rührigen, kleinen Missionsgemeinde, hinter der ein
Erinnerungsschatten an die im Dickicht von South London die
Botschaft verkündende Christ Church sichtbar wurde,
deren Gottesdienste der junge Chaplin mit seiner Mutter jeweils
hatte besuchen müssen.
Es ist eine herrliche, doppelbödig wirkende Versammlung,
in der Charlie in Easy Street gelandet ist. Eine Mutter
in derselben Bankreihe reicht ihm kurz ihr Baby zum Halten,
wobei sein Arm merkwürdig nass zu werden beginnt.
Auch gegen den unrasierten Kerl, der sein einnickendes
Haupt ihm an die Schulter betten will, muss er sich wehren. Auf
der anderen Seite hat er eine Frau neben sich, die
Rechtschaffenheit in Person, die ihm unnötigerweise ihr
Gesangbuch leihen will.
Tochter des Predigers
Vor allem aber entdeckt Charlie, der fromme Lieder
singen soll, augenzwinkernd die Tochter des Predigers, Edna
Puviance, die am Harmonium sitzt und ihm zulächelt.
Und die Aussicht sie wieder zu sehen ist es, die ihn dazu
bewegt, sogar die Kollektenbüchse, die er unbemerkt an sich
genommen hat, reumütig zurückzugeben.
Will er für diese Schönheit, die ihn bekehrt hat, für Edna, ein
neues Leben beginnen? Zweifelnd bleibt er vor der
Tür zur Polizeiwache stehen, auf der sie neue Leute suchen.
Ein paar Schritte kommt er neugierig heran, doch als
er Im Eingang einen Polizisten stehen sieht, wetzt er gleich wieder
davon; dreimal muss er Anlauf nehmen, bevor er
diese Schwelle überwindet, um sich für den Job zu bewerben.
Die Polizeiwache, stellt sich heraus, gleicht einem Lazarett;
ein Bandenchef, ein wahrer Herkules, terrorisiert das Revier, eben
schleppen sie wieder einen verwundeten Uniformierten
auf der Bahre heran.
Polizist
So sehen wir denn Charlie, wie er in Uniformmantel, mit
Polizistenhelm und Knüppel um die Ecke in die Strasse einbiegt,
in die sich keiner mehr hineingetraut: breitbeinig, mit
watschelndem Gang, als müsste er sich selber Mut machen,
kommt er den Bürgersteig entlang, an dessen Ende der
gewalttätige Herkules ihn bereits erwartet.
Alles scheint sich verschanzt zu haben, kein Mensch ist mehr
auf der Strasse zu sehen, nur dieser von Eric Campbell
verkörperte, hünenhafte Schlägertyp, der als Trophäe einen
Polizistenhelm auf seinem Schädel trägt.
Neugierig-bedrohlich, als wollte er den neuen
Polizisten gleich mit einer Hand zerdrücken, kommt er neben
Charlie hergegangen.
Dieser gibt sich umsonst Mühe, seine Angst zu überspielen;
vor sich hinpfeifend erreicht er noch die Alarmsäule,
wo er den übermächtigen Widersacher abzulenken sucht
und mit der Telefonmuschel hantiert, als sei sie ein
Musikinstrument, ein Fernglas.
Um dann, als der Koloss sich prüfend niederbeugt,
ihn mit dem Knüppel zu bearbeiten, was sich freilich als
vollkommen wirkungslos erweist.
Hüne
Nun ist es im Gegenteil der Hüne, der diese Mücke eines
Polizisten an die Wand drückt und seine Kräfte demonstriert,
indem er den Pfosten der Gaslaterne wie nichts
herunterbiegt.
Da springt Charlie, mit der List des Verzweifelten,
überraschend den Kraftprotz an, würgt ihm den Kopf in die
Laterne hinein und betäubt ihn mit Gas.
Es war während der Dreharbeit zu dieser Szene,
beim Herabknicken des Laternenpfahls, als Chaplin durch
das Metallstück der Gaslaterne sich am Nasenrücken
verletzte.
Nur im Film verhielt es sich demnach so, dass Charlie
den bewusstlos am Boden liegenden Herkules, nachdem er ihm
den Puls gemessen hat, zur Sicherheit gleich nochmals
eine Betäubungsdosis verabreicht.
Der kleine Polizist triumphiert, die Ordnung scheint wieder
hergestellt, nur prallen soziales Elend und Eigentumsbegriff nun
bei Charlie aufeinander.
Einer ertappten, mittellosen Frau erbarmt er sich, gibt ihr
den Schinken zurück, den sie gestohlen hat; dazu reicht er ihr
noch Gemüse, das er eigenhändig für sie klaut, und
bekommt zum Dank einen Blumenkohl an den Kopf geworfen.
Märchenhaft
Wir sehen Charlie, der Edna im Dienste der Wohltätigkeit
zu einer verwahrlosten Familie begleitet: wie Vögel
füttert er die Kleinkinder, die nahezu ein Dutzend in Körben, Zubern
und Kisten verteilt das einzige Zimmer bevölkern
Unterdessen kommt es auf der Polizeiwache zur Auferstehung
des Riesen, der sich aus den Handschellen befreit, mit
Bärenstärke ausbricht und nach Hause zurückkehrt. Dort kommt‘s
zum Ehekrach, er schlägt sein Weib. Und Charlie, der
Friedensstifter, sucht ihm in wilder Flucht zu entrinnen, durch
Fenster und Türen, übers Treppenhaus, durch die Küche
und übern Bürgersteig.
Einmal entwischt er ihm noch, als er schon in der Falle
sitzt, entkommt und sieht sich dem Mob der Ganoven, Huren,
Bettelweiber, Fixer, Säufer und Wegelagerer gegenüber.
Geradezu märchenhaft, wie er mit Edna in einem Kellerverliess
landet, ahnungslos von einer Rauschgiftnadel gestochen
zu übermenschlichen Energien findet, Edna umarmt, den Mob
in die Flucht schlägt und den Hünen zur Strecke bringt,
indem er ihn mit einem aus dem ersten Stock herab gewuchteten
Kochherd buchstäblich zu Fall bringt.
Das Schlussbild, eine ironische Fussnote, zeigt in perfekter,
sonntäglicher Idylle die Bewohner von Easy Street, wie
sie friedlich-geeint zum Missionslokal stapfen, sogar der Herkules
mit Frau, zuletzt auch Charlie, der es mit Edna, seinem
Mädchen, nicht allzu eilig hat.
Easy Street Clippings
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