Strand, London, 1890er, FHA; Tivoli, 1910. Coliseum, um 1920
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Kindheit – Was ist von der Autobiographie,
die Chaplin 1964 veröffentlicht, zu halten,
wenn sich herausstellt, dass bedeutsame Details
der Beschwörung seiner Londoner Kindheit
einer genaueren Überprüfung nicht standhalten?
Fritz Hirzel, Chaplins Schatten. Bericht einer
Spurensicherung. Zürich 1982
Mutter. Letzter Auftritt
Beinahe sieht es aus, als hätte der alte Mann von
seinem Herrschaftssitz über dem Lac Léman aus nichts anderes
getan, als die Legende seiner Kindheit mit Szenen
ausgemalt, die sich nachträglich als unhaltbar, wenn nicht zum
Teil gar frei erfunden erweisen.
Erinnern wir uns an seine Beschreibung des tränenerfüllten Augenblicks, als seiner Mutter bei einem Auftritt
in der Music Hall die Stimme versagt, sodass sie von der
Bühne abtreten muss, während ihr Kleiner, fünfjährig gerade,
hinaustritt vor das Publikum, dessen Sympathien er mit
dem Song Jack Jones im Flug erobert haben will: „Jack Jones,
you‘d know ‘im if you saw ‘im ‘round about the market
place.“
Aldershot 1894: dies soll für ihn der erste, für seine Mutter
der letzte Bühnenauftritt gewesen sein? Nun, was sollen
wir von dieser Geschichte halten, wenn wir auf ein
Theaterprogramm stossen, auf welchem Miss Lily Chaplin,
Serio and Dancer, zu entdecken ist: zwei Jahre
nach ihrem angeblichen Abgang von der Bühne, 1896 im
Hatgham Liberal Club?
Vater. Bestattungskosten
Oder nehmen wir die Szene, die Chaplin vom Begräbnis
seines Vaters schildert: die Familie sei so abgebrannt gewesen,
dass seine Mutter die Bestattungskosten nicht hätte
bezahlen können, doch plötzlich sei da ein unbekannter,
in Südafrika ganze Ländereien besitzender Uncle
Albert aufgetaucht, der das Geld für die Beerdigung hingeblättert
habe.
Was folgt, hat middle class Format: ein mit Satin
ausgeschlagener Sarg, die Fahrt mit der Kutsche zum Friedhof,
Kränze, Blumen, die ins Grab geworfen werden. Es genügt,
die in Lambeth ausgestellte Todesurkunde ausfindig zu machen
um Chaplins ganze Bestattungsgeschichte zu widerlegen.
Seinem Vater wurde offenkundig ein Armenbegräbnis
zuteil, eine letzte Reise ohne Zeugen, ohne Trauergäste, vom
Duft der Blumengebinde, vom Pferdegetrappel der
Kutschen nicht zu reden.
Music Hall. Herkunft
Stattdessen stellen wir fest, dass auf dem Dokument eine
Adresse von Chaplins Mutter festgehalten ist, die seiner Darstellung nochmals zu widersprechen scheint: 16 Golden Place,
Chester Street, Lambeth, das dürfte keine schlechte Adresse
gewesen sein in jenen Tagen.
Dass sie in South London wohnten, in Lambeth, um im Bezirk
genau zu sein, wenn auch zunächst an bester Lage, war
für Bühnenprofessionals, die in der Music Hall auftraten, nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil.
Artisten gab es hier jede Menge, auch Stars mit hoher
Wochengage, die einen aufwendigen Lebenswandel führten.
South London war bekannt für seine Music Halls, für diese
Freizeitpaläste einer Arbeiterkultur, auf deren Bühnen
ordinär vielleicht, aber ohne Umschweife, ohne Zweideutigkeiten
zum Ausdruck kam, was die Arbeiter im Saal dachten
und fühlten, aber nicht artikulieren konnten.
Für Chaplin war hier von Anfang an die Welt, auf die
sich die grossen Erwartungen bezogen. Hier waren die Idole, die
populären Stars, die Professionals, die Karriere gemacht
hatten, Leute, die im Quartier gleichwohl von jedermann geschätzt,
manchmal bewundert wurden.
Es war diese Welt, zu der seine Mutter gehörte, die Familie,
er selbst. Miss Lily Chaplin, so war sie im Programm angekündigt,
die einstige Lily Harley, Soubrette mit violett-blauen Augen,
geborene Hannah Hill, Tochter eines Schuhmachers, eines der zahlreichen, aus Irland zugezogenen Unterklassigen.
War dies hier nicht ein Aufstieg, der sich sehen lassen konnte?