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The Count Clippings 41/50

Karl Lütge, Berliner Börsen-Zeitung, Berlin, Dtl., March 12, 1922.

UfA

Spielplan v. 2. 12–8. 12

Tauentzienpalast

Das zweite Leben (...)

Die Chaplinquelle (...)

  1. U.T. Kurfürstendamm

  2. U.T. Nollendorfplatz 4

(...) Berliner Tageblatt, Dec 4, 1921


„Chaplin ist ein Erfolg. Zweifellos“

Editorial content.


Redaktioneller Inhalt. „Charlie Chaplins Komik

      (Das befreiende Lachen – oder...?!)

      Wer ist Charlie Chaplin? Was ist Charlie Chaplin?

Charlie Chaplin ist Gott. Charlie Chaplin ist Kunst.

Charlie Chaplin ist Clown. Charlie Chaplin ist Blödsinn.

Charlie Chaplin ist Himmel, ist Hölle, ist Gott, ist

Teufel, ist... ist...

      Das ist Charlie Chaplin! Der große internationale Filmhumorist.

Der große Chaplin! Der mit einem Achselzucken abgetane,

geistlose, alberne Clown...

      In der Tat – das ist viel, ist alles. Und ist doch nichts. Mit

anderen Worten also: Charlie Chaplin ist kein bloßer,

gewöhnlicher Schauspieler, der wie sonst betrachtet, beurteilt

und verurteilt werden kann.

      Zunächst die eine Frage: Woran liegt es, daß es so ist? Liegt wirklich eine hervortretende, besondere Begabung

zugrunde? Oder haben wir es mit einer Mode, einer Laune

des Publikums zu tun?

      Der Begriff ,wir‘ ist von entscheidender Bedeutung. Wir

Deutschen ,verstehen‘ Charlie Chaplin nur, wenn

wir zu der niederen Bildungsschicht zählen, die grobe, äußere

Eindrücke zur Befriedigung der Schaulust und zum

Lachen gebraucht. Zählen wir zum durchschnittlichen, also

kulturell höherstehenden Deutschen, dann sagt uns

Charlie Chaplin blutwenig. Dann verstehen wir das Geschrei um den faden Gesellen nicht. Zählen wir nun zu Besuchern bester Lichtspielhäuser, dann ziehen wir ein handlungsreiches, wirklich deutsches Lustspiel einer sogenannten Chaplin-Groteske

vor; denn grotesk sind weder Handlung noch Humor, noch Einfälle

bei den Chaplin-Filmen. Es sind ganz einfach die primitiven Erheiterungsbewegungen, die der niedere Zirkusclown ausführt,

um ein naives Publikum zum Lachen zu bringen. Von

Kunst, von Können, von Schauspielerraffinement, wie wirs bei

dem französischen Possendarsteller in den Lehrmann-

Possen vor Jahren fanden, gibt es bei Charlie Chaplin einfach

nichts. Charlie Chaplin gibt sich hilflos, dumm, weltfremd,

ahnungslos. Es ist ein harmlos-komisches Gebahren, wie wir es grad

so gut bei jungen Katzen oder Hunden beobachten

können. Ob dieses Sichgeben Charlie Chaplins tieferer

Veranlagung entspricht oder gewollt-komisch sein

soll zu dem Endzweck, Lachen zu erregen, ist nicht so sehr

erheblich. Dass der Erfolg da und vorhanden ist, genügt

auch weder, noch ist er ein Wertmesser.

      Nehmen wir die Chaplin-Quelle. Die Leute lachen.

Lachgewöhnte junge Mädchen biegen sich sogar

vor Lachen. Chaplin stellt Unfug an der Drehtür bis zum Überdruß

an, gießt sein Wasser in den Hut usw. Was ist daran

komisch? Die Tatsache? Das monotone Gesicht Chaplins?

Chaplin läuft Rollschuh. Sind die unästhetischen Dinge

im Speiselokal und der Restaurantsküche im Grunde genommen

komisch? Oder albern, läppisch...? Die letztgenannten

Möglichkeiten liegen weit näher. Es sei denn, wir sind Bantu-

Neger oder Hinterwäldler, die es nicht so genau nehmen

und jede Ohrfeige, die ein anderer kriegt, als einen Hochgenuß

und Grund zum Lachen betrachten.

      Man braucht nicht Pedant, nicht Philister zu sein,

um zu erkennen, daß uns Deutsche eine Chaplin-

Possenreißerei nicht auf die Dauer zusagen kann. Gewiß soll

und muß unser Volk lachen. Aber es soll befreiend

lachen können. Befreiend! Das ist es. Nach den Chaplinpossen

bleibt ein schaler, leerer Geschmack. Man weiß nichts.

Man versteht nicht, warum man lachte. Es war nicht das mindeste

Besondere. Es war das Alleralltäglichste, sodaß

wir es sogleich wieder vergaßen und vom ,Inhalte`des Films

buchstäblich nichts erzählen können.

      Was schreibt nun die englische, die amerikanische, überhaupt

die ausländische Kritik über Charlie Chaplin?

      Die nordischen Länder scheiden aus. Hier ist Chaplin

ähnlich wie in Deutschland eine Zwittererscheinung,

die mit einem nassen und einem trockenen Auge betrachtet

wird. Das Urteil eines Engländers, St. John Ervine

(im Nachfolgenden), zeigt am besten den Wesensunterschied

zischen Engländern und Deutschen. Was der Engänder

lustig und humorvoll findet, ist für uns kaum mehr der Schein von Humor. Wir bevorzugen die Handlungs-Situationskomik,

den Wortwitz, wie wir beides in unseren Bühnenlustspielen und

neuerlich natürlich auch in Filmlustspielen finden.

      St. John Ervine schreibt über Chaplin:

      ,Kaum hatte ich meinen Platz gefunden, als Mr. Chaplins

wunderliche, pathetische, ernste, an sich selbst

verzweifelnde Gestalt sich in den Lichtkreis schob. Er sah

in einer seiner selbst sehr ungewissen Haltung sich

um, wirbelte zweimal seinen Spazierstock durch die Luft, rückte

seinen Hut so zurecht, dass er noch unsicherer saß,

kniff seine Gesichtszüge so ein, als ob er sagen wolle, ob alles

so gut und schön ist. Und dann schritt er die Straße

hinab, um sich her jenes Air gewinnender Inkompetenz, die

das Charakteristische aller großen Komödianten ist.

      All der Unsinn, den Mr. Chaplin macht, kommt nicht aus dem

vergeblichen Versuch klug zu sein, sondern aus den

mißlungenen Versuchen, so zu sein, wie andere Leute auch.

Bergson in seinem Buche über das Lachen erzählt

seinen Lesern, daß das Lachen das Resultat daraus ist, wenn

etwas Lebendigem etwas Mechanisches

auferlegt wird – eine Erklärung, die mir weder vollständig

noch befriedigend erscheint. Ich weiß nicht, ob Mr.

Chaplin philosophische Spekulationen anstellen kann, aber ich

weiß bestimmt, daß durch sein Verhalten er vieles

ausdrücken kann, was Philosophen in Verlegenheit setzt; und

es düngt mich bisweilen vorteilhaft für Mr. Bergson,

daß er Mr. Chaplin studiere, ehe er eine verbesserte Auflage

des Lachens herausgibt.‘

      Es bleibt nichts hinzuzufügen. Chaplin ist ein Erfolg.

Zweifellos. Er ist es dort und hier. Drüben, wo er

leibt und lebt, und bei uns. Aber bei uns ist er bestritten. Wenn

auch das Publikum in manchen Lichtspielhäusern in

Deutschland rast. Trotzdem ist und bleibt Chaplin bestritten. Ein

Gott ist Chaplin bei uns nicht, und ein Lustspiel deutscher

Produktion wird stetig nachhaltigeren Eindruck hinterlassen und

somit größeren Erfolg haben als eine Chaplin-Posse,

wie sie auch heißen mag. Das wird bei beruhigtem Betrachten

niemand abzustreiten vermögen.

                                                                           Karl Lütge.“


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Chaplins Schatten

Bericht einer Spurensicherung