Photo National Film Archive, London – The Kid Clippings
THE KID 2/7
Jackie Coogan – Chaplin hatte ihn auf der Bühne
im Los Angeles Orpheum Theatre entdeckt.
Vor der Kamera, erst recht in einer Titelrolle, war
das Kind für Chaplin, den Regisseur, eine
tägliche, kleine Sensation. Clippings.
Fritz Hirzel, Chaplins Schatten. Bericht einer
Spurensicherung. Zürich 1982
Es war gewiss kein Zufall, wenn Chaplin gerade aus dem
privaten Tief heraus, in das er mit seiner Ehe geraten
war, auf die Idee, auf die Stimmung verfiel, sich der Tage
seiner Kindheit in South London zu erinnern.
Das wird auch nicht geschmälert durch den Umstand,
dass der Anstoss, die Inspiration dazu von seiner Neuerwerbung
ausging, vom Wunderkind auf der Besetzungsliste – von
Jackie Coogan, dem von Chaplin auf der Bühne des Los Angeles
Orpheum Theatre entdeckten Kleinen, der bereits in
A Day‘s Pleasure, am Rand freilich nur, im Bild gewesen war.
Nun stand er im Mittelpunkt, wurde im Handlungsgeflecht
zum Dreh- und Angelpunkt aller Sorgen und Nöte,
die ein im Slumbezirk sich durchs Leben schlagender Charlie
mit dem ihm aufgehalsten Findelkind, seinem flinken,
gelehrigen Nachwuchs, sich zu teilen entschliesst.
Das Kind vor der Kamera, erst recht in einer Titelrolle,
war für Chaplin, den Regisseur, eine tägliche, kleine
Sensation, denn tatsächlich erwies sich der talentierte Kleine,
der einer entsprechenden Behandlung sicher sein konnte,
als die Attraktion auf dem Drehplatz.
Gefühl in die Bewegung legen
Babies und Hunde, meinte Chaplin zwar, indem er The Kid
mit A Dog‘s Life verglich, seien ohnehin die besten
Filmschauspieler, aber mit dem neuen Partner, so kam es der
Equipe vor, war es trotzdem etwas Besonderes.
Die pantomimischen Grundregeln, die Jackie Coogan
zu lernen hatte, erfasste er schnell, mühelos. Er brachte
es fertig, in seine Bewegung Gefühl zu legen und das Gefühl
in Bewegung umzusetzen. Und er vermochte das beliebig
oft zu wiederholen, ohne dass der Eindruck der Spontaneität
verloren ging.
Unter anderem sah das Drehbuch für Charlie und den
Kleinen Aufnahmen vor, in denen sie mit geteilten
Aufgaben auf der Gasse unterwegs sind. Fenstereinschmeissen
als Arbeitsbeschaffung. Ein Einfall übrigens, den der
Tournéeveranstalter Fred Karno über sich aus jenen Tagen
in Umlauf brachte, in denen er sich erfolglos als Glaser
bemüht haben will.
Er pflegte einen Kollegen anzuheuern, der ein paar
Fensterscheiben einschmiss, erschien dann wie durch Zufall
gerade rechtzeitig am Tatort, um sie zu reparieren.
Rückzug, nicht durchgehalten
Helle Freude hatte Chaplin, der Regisseur, an der Szene mit
dem Polizisten, den Jackie Coogan unvermutet hinter sich
wahrnimmt, als er mit der Hand gerade zum Steinwurf ausholt,
um eine weitere Fensterscheibe einzuwerfen.
Wie er den Arm auf einmal baumeln lässt, als sei‘s ein
harmloses Ballspiel, wie er den Stein wegschmeisst,
davonschlendert und plötzlich zu rennen beginnt. Das war ein
ganzer, durchaus schwankender Ablauf, ein vertuschender,
nicht völlig durchgehaltener Rückzug gleichsam.
Chaplin liess das dreimal, vielleicht viermal proben,
dann hatte Jackie Coogan die Mechanismen begriffen und
begann ein Gefühl für die Szene zu bekommen.
Natürlich gab es andere, weitaus einfachere Aufgaben,
die nicht so mühelos zu realisieren waren.
Unübertrefflich war Jackie Coogan offenbar, wenn er geistig
beansprucht wurde. Einmal aber, da wollte Chaplin ihn
mit einer Türe hin und her schwingen lassen – ohne Gedanken,
einfach so, doch wirkte der Kleine, weil er an nichts zu
denken hatte, so befangen, dass Chaplin die Idee fallen liess.
Auch Jackie Coogans Vater, der Grotesktänzer,
ebenfalls beim Film gelandet, offenbar aus seinem Vertrag
bei Fatty Arbuckle aber ausgestiegen, war inzwischen
auf dem Drehplatz dabei.
Nicht nur, dass er Chaplin im Umgang mit dem Knirps
behilflich sein konnte, er spielte auch den Kleptomanen in der
Nachtasylszene, der sich mit Schlangenfingern an Charlie
heranmachte.
Heulender Balg
Eines Tages endlich standen jene Szenen auf dem
Drehplan, die zum dramatischen Höhepunkt des Films werden
sollten, jener Augenblick, in dem zwei Beauftragte der
Armenfürsorge den Kleinen von Charlie fortschleppen, um ihn
in ein Waisenhaus zu stecken.
Jackie Coogan sollte Tränen vergiessen, Tränen
der Verzweiflung, doch warteten alle vergeblich, und Chaplin
mindestens behauptete später, was er ihm auch an
Schrecklichem erzählt habe, Jacke Coogan sei ungerührt
geblieben.
Schliesslich hätte er ihn mit seinem Vater allein
gelassen, der es ohne Schläge, ohne ihn zu erschrecken,
in kürzester Zeit fertigbrachte, das muntere Kerlchen
in den benötigten heulenden Balg zu verwandeln – und zwar
ganz einfach, indem er ihm drohte, er dürfe nicht
mehr ins Studio.
The Kid Clippings