Hotel Utah, Salt Lake City, 1920s, postcard, detail, ebay
THE KID 3/7
Mildred Harris – Vor befürchteten, aus der
Scheidung von Mildred Harris erwachsenden
Ansprüchen flieht Chaplin nach Salt Lake
City, das Rohmaterial von The Kid im Gepäck. Nach
Utah, dem Staat der Mormonen. Clippings.
Fritz Hirzel, Chaplins Schatten. Bericht einer
Spurensicherung. Zürich 1982
Gewiss ist es kein Zufall, wenn wir beim Versuch, uns die
Vita Chaplins einigermassen zu vergegenwärtigen,
mehr und mehr in einen Erzählfluss geraten sind, der das
Geschehen in einer Art Parallelmontage vorangetrieben
hat, beispielsweise die Dreharbeiten zu The Kid hier, die Scheidungsaffaire um Mildred Harris dort.
Es waren diese zwei nebeneinander herlaufenden
Ereignisketten, die sich Ende 1920 überstürzten
und miteinander verbanden. Von Arthur Wright, einem
Rechtsanwalt, war Chaplin gewarnt worden,
Mildred Harris könnte die Aktiva seiner Firma pfänden lassen
und einen Teil des Gesellschaftseigentums beanspruchen.
Chaplin reagierte auf diese Eröffnung, wenn sie
überhaupt in solcher Art vorgetragen wurde, mit einem geradezu
visionären Schrecken, sah eine Verschwörung gegen sich
aufgebaut, ein über Alimentenforderungen längst
hinausreichendes Komplott, dessen Hintermänner ihm The Kid
entreissen wollten.
Könnten nicht die Rechtsanwälte der First National
versuchen, auf dem Umweg über die hängige Scheidungsklage
an den Film heranzukommen, nachdem die Verhandlungen
über dessen Kaufpreis gescheitert waren?
Überstürzt liess er seinen Film, der sich im Stadium der
Fertigstellung befand, zusammenpacken und entzog
ihn dem befürchteten Zugriff gerichtlicher Verfügungen durch
eine Flucht nach Salt Lake City, der einer makaberen
Farce in nichts mehr nachzustehen schien.
Mitten in der Nacht
Mitten in der Nacht liess er Kono, den Chauffeur, wecken
und ihm erklären, sie hätten The Kid aus Kalifornien
herauszuschaffen. Seine Absicht war, was ihm am Schnitt
noch fehlte, in einem Bundesstaat mit weniger extensivem
Ehe- und Scheidungsrecht zu erledigen.
Kono war in dem Wohnhaus, das Chaplin mit dem
Studiogelände erworben hatte, untergebracht, einem recht
grossen, von Garten, Tennisplatz und Garage umgebenen
Haus, das sich inmitten der vorderen Hälfte des Areals
befand, auf jener Seite des Grundstückes also, die dem Sunset
Boulevard zugewandt war. Und die Schlafzimmer von
Kono, der mit seiner Frau zusammenlebte, befanden sich im
zweiten Stock.
Ebenfalls aus dem Schlaf gerissen wurde Totheroh,
der Chefkameramann, der mit Frau und Sohn an der Highland
Avenue wohnte. Es war drei Uhr morgens, als er von
Alf Reeves aus dem Bett geholt wurde, to get out of town.
Es wurde Totheroh, der auch Chaplins Cutter war,
erlaubt, Jack Wilson, seinen Assistenten, mitzunehmen.
Wahrscheinlich verging einige Zeit, bis sie ihre
Fracht reisefertig hatten. The Kid, verpackt in Kaffeebüchsen,
das gesamte Negativmaterial, alles in 200-Fuss-Rollen,
in einem Dutzend Koffer, Kisten, Mappen und Tragtaschen
verstaut. Wartend sass Chaplin dabei, mit einer
dunklen Brille angetan.
Endlich fuhren sie los, über Hinterstrassen, Figuren einer
Kriminalstory nicht unähnlich, von Kono chauffiert.
Chaplin in Begleitung seiner Techniker, The Kid, seinen
Besitz, bei sich, Hunderte von Filmrollen.
Durch die Berge ging es und über die Grenze, stundenlang
durch die glimmende Wüste von Nevada, die vor ihnen
lag wie eine Fata Morgana, verstaubt, verschwitzt, wie sie in ihrer
Limousine sassen, unterwegs nach Las Vegas, meilenweit
durch die Wüste, nach Utah weiter, dem Staate der Mormonen,
den die Gläubigen auch Zion nennen, nach Salt Lake City,
in die Hauptstadt.
Hier glaubte Chaplin sich in sicherer Distanz vor der
polypenhaften Umarmung durch gesetzliche Bestimmungen,
wie sie in Kalifornien bestanden, wenn auch keineswegs
gänzlich befreit aus dem wahnwitzigen, nach wie vor ihn offenbar
verfolgenden Gedanken, der Film könnte ihm plötzlich
beschlagnahmt werden.
Hotelzimmer
Mag sein, dass sie Bankräubern, geflüchteten, nicht ganz
unähnlich sahen, als sie im Hotel ankamen und ihnen
Zimmer zunächst verweigert wurden. Bei ihrem Anblick soll der
Portier erklärt haben, billige Zimmer seien keine frei.
Zuletzt gelang es Kono doch Chaplin einzuschreiben, wie
vereinbart unter dem Namen von dessen Mutter, als
Charles Hill also, Telegramme wurden aufgegeben, ein in
Worten, in Silben gefasster SOS-Ruf, der nach Los
Angeles erging, von wo Tom Harrington Geld und Kleider
nachzuschicken hatte.
Inzwischen war auch in Salt Lake City, unter diesem
besonderen, das Reich Gottes erwartenden Menschenschlag,
Chaplins Identität erkannt worden.
Und während in einem Hotelzimmer das Puzzle
nummerierter Filmstreifen über sämtliche verfügbaren Möbelstücke,
Fenstersimse, Kommoden und Schubladen ausgebreitet
wurde, kursierten in der Stadt Gerüchte, die wissen wollten,
Chaplin bedürfe dringend der Ruhe, oder gar, es sei mit
ihm vorbei, er suche einen Mieter für sein Filmstudio.
Hier also, im Versteck dieses Hotelzimmers, setzten sie
unter primitivsten Bedingungen die Montagearbeit fort.
Hier entstand, tausend Kilometer von Hollywood entfernt,
die endgültige Fassung von The Kid. Das Material, das
sie zu verarbeiten hatten, war ungemein umfangreich.
Und obwohl die definitive Version nur etwas weniger als
1700 m lang wurde, waren angeblich an die 140 000 m
Film belichtet worden, was selbst angesichts der Tatsache
erstaunlich bleibt, dass zwei Kameras verwendet
wurden, wobei ein Negativ für Europa bestimmt war.
Allein die vielleicht ein, zwei Minuten dauernde Szene,
in der Jackie Coogan Omeletten zubereitet, mit Charlie
im Hintergrund, seinem Bett entsteigend, indem er aus der
Bettdecke einen Morgenmantel macht, soll während
der zwei Wochen Drehzeit, die Chaplin, der Perfektionist,
auf sie verwandte, 18 000 m beansprucht haben.
Der Wille zum perfekten Timing, zur Präzision hatte zur
Folge, dass über zweitausend Rushes auszusortieren
waren. Wie leicht konnte es da geschehen, dass ihnen ein
Muster verloren ging, und dann krochen sie stundenlang
herum erinnerte sich Chaplin, suchten auf dem Bett, unter dem
Bett, im Badezimmer, suchten verzweifelt und drehten
alles um, bis sie es fanden.
Preview
Chaplin schien verunsichert durch das kleinformatige
Zappelbild, auf das er seine Vision am Schneidetisch zusammengedrückt sah, und begann an den komischen
Erfindungen seiner Imagination zu zweifeln, während
er den Film immer wieder im Taschenformat ablaufen sah.
Die Bilder, so kam es ihm vor, verflachten in ihrer
Wirkung mehr und mehr, verloren durch die stete
Wiederholung den letzten Reiz. Nur gut, dass er die Rushes
im Studio wenigstens noch auf grosser Leinwand
gesehen hatte.
Endlich war eine Fassung von The Kid montiert
und für Chaplin der Zeitpunkt gekommen, den Film vor einem
Publikum zu testen, ihn am Hund auszuprobieren,
wie er es nannte, to try it on the dog.
Ohne Vorankündigung wurde in einem Kino von
Salt Lake City eine Vorführung angesetzt, eine preview vor
Dreiviertel vollem Saal, wobei The Kid unter den
Zuschauern gewaltig einschlug und anscheinend wahre
Lachstürme entfesselte.
Nach zwei Wochen war es Zeit, das Hotelzimmer
und Salt Lake City zu verlassen und mit dem Zug nach New York
überzuwechseln, wo Totheroh ein Labor finden musste.
The Kid Clippings