– The Kid Clippings
THE KID 5/7
First National – Der ambitiöseste, teuerste Film,
den Chaplin bisher gedreht hat, The Kid,
sechs Akte lang, passt nicht ins finanzielle Muster
des Vertrags mit der First National. Doch wer
steckt hinter der Intrige? Clippings.
Fritz Hirzel, Chaplins Schatten. Bericht einer
Spurensicherung. Zürich 1982
Auch in New York wusste Chaplin nicht, was gespielt wurde.
Der Grund seiner Panik war in der Intrige zu suchen,
deren er die First National verdächtigte. Daran, gewiss, war
mehr als an der Vermutung, dass seine Kasse leer
gewesen wäre oder dass er hätte befürchten müssen, die
Abfindungssumme nicht bezahlen zu können, die
Mildred Harris beanspruchen würde.
Es mochte sein, dass seine Reserven an verfügbaren
finanziellen Mitteln ein wenig zusammengeschrumpft
waren, was nicht verwunderlich sein konnte nach der Tournée
für die Liberty Bonds, den häuslichen Troubles, der
Gründung der United Artists und all den anderen Unterbrechungen,
die seine Produktivität noch weiter gedrosselt hatten.
Steuern waren zu bezahlen, auch Gerichtskosten
fielen an, nachdem er Essanay wegen Vertragsbruchs verklagt
hatte und in letzter Instanz unterlegen war. Nicht zu
vergessen The Kid selbst, in den er 300 000 Dollar investiert
hatte, nicht eingerechnet seine eigene Arbeit, die sich
über mehr als ein Jahr hinzog.
Natürlich wurde der Konflikt um den Kaufpreis verschärft
durch die Tatsache, dass Chaplin als einer der Inhaber
der United Artists nun selbst über einen Verleih verfügte, was der Auseinandersetzung einen Beigeschmack des Absurden
verlieh.
Obwohl es seinerzeit so ausgesehen hatte,
als wäre die Vereinbarung mit der First National in einiger
Weitsicht getroffen worden, erwies sie sich nach drei
Jahren bereits als zu eng und überholt. Auf das Angebot
Chaplins, sich aus dem Vertrag loszukaufen, wollte
die First National nicht eingehen, also sollte sie bezahlen!
Ambition
The Kid, der ambitiöseste, teuerste Film, den Chaplin je
gedreht hatte, war sechs Akte lang, war ein Spielfilm
geworden und wollte nicht ins finanzielle Muster passen, das
diesem Vertrag zugrunde lag, der budgetmässig von
Zweiaktern ausging, von Kurzfilmen also.
Die Verhandlungen, wie gesagt, waren bisher
gescheitert. Was war geschehen? Laut Vertrag war vereinbart,
Chaplin sollte pro Film, das heisst in diesem Fall pro
Zweiakter 125 000 Dollar bekommen, dazu jeweils weitere
15 000 für jeden Akt, für jede Rolle, die ein Film länger
als ein Zweiakter wurde.
Das hätte insgesamt keine 200 000 Dollar gemacht,
weniger als die Summe, die er selbst in den Film
investiert hatte. Nach einigem Hin und her hatte die First National
eingewilligt, The Kid wie drei Zweiakter zu bewerten,
was Chaplin rund das Doppelte eingebracht hätte, 375 000
Dollar nämlich.
Dieser Preis war ihm zu wenig gewesen. Dafür wollte
er den Film nicht hergeben, er wollte mehr. Er verlangte 600 000
plus Gewinnbeteiligung. Und nun sass er mit dem
Köder im Ritz Carlton und wartete ab, wie die First National
reagieren würde.
Scheidung
Zunächst harrte er angeblich in seinem Hotelzimmer aus,
weil er überall Zusteller mit gerichtlichen Verfügungen
vermutete, die auf ihn lauerten und, wie er wähnte, die Hotelhalle
belagerten.
Der Versuch, auf ihn Druck auszuüben, das Komplott, der Belagerungszustand. War das alles nur ein von ihm
masslos aufgeblähtes, eingebildetes Manöver? Was war
Einbildung, was Verfolgungswahn, was begründete
Befürchtung, was Tatsache?
Tatsache war, dass er nach einer Nacht, die er ausserhalb
des Hotels verbracht hatte, ins Ritz Carlton zurückkehrte
und keine Zusteller vorfand. Stattdessen wurde
ihm ein Telegramm ausgehändigt, in welchem sein Anwalt
in Los Angeles ihm mitteilte, dass die Scheidung
perfekt sei, nachdem Mildred Harris nun unterschrieben habe.
Und als wäre alles ein fantastisches Wahngespinst
gewesen, reduzierte sich das Scheidungskomplott auf ein paar
lapidare Feststellungen. Die Regelung der finanziellen
Ansprüche war, wie vereinbart, aussergerichtlich zustande
gekommen. Mildred Harris bekam 100 000 Dollar, dazu
einen Anteil ihres gemeinsamen Eigentums.
Bereits am 19. November 1920 wurde die Scheidung
ausgesprochen. Erleichterung, Befreiung. Allerdings,
bevor Chaplin sich vollends ins New Yorker Leben stürzen
konnte, das sich ihm mit Parties und Einladungen
eröffnete, stand die Präsentation von The Kid auf dem Programm.
Eine makabere Vorführung vor zwei Dutzend Kinobesitzern,
die zur First National gehörten: unhöfliche, skeptische, abweisende
Männer, die zu einer Leichenschau zu kommen schienen,
wie Chaplin sich mokierte.
Schweigend schauten sich die Geschäftsleute den
Film an, hin und wieder ein Kichern, das war aber auch schon
alles, wenn wir von der geradezu peinlichen Betretenheit
am Ende absehen, als jeder sich zunächst um eine
Meinungsäusserung herumdrückte.
Nun, die Herren waren offenbar enttäuscht, einige monierten schliesslich, sie hätten für diese Summe etwas anderes
erwartet, der Film sei wohl kaum zugkräftig genug. Jemand
meinte kühl, er könnte nichts Besonderes darin finden.
Für die Versammelten, so sah es aus, war The Kid schlicht
und einfach eine Komödie, die über mehr als zwei Akte
ausgedehnt war. Einer erklärte gar, er hätte im Film nicht eine
einzige interessante oder bewegende Szene gesehen,
sodass Chaplin sarkastisch erwiderte, was sie denn vermissten
– ein Eisenbahnunglück? einen Brückeneinsturz?
Zuletzt liess sich J. D. Williams, der Präsident der First
National, noch zum Kompliment herbei, er finde den
Film wunderbar, so menschlich und anders – aber gerade dieses
anders, das gefiel Chaplin gar nicht.
Immerhin, nachdem sich die Herren unter dem
Vorbehalt einer Bedenkzeit entfernt hatten, signalisierte die First
National sehr bald ihre Bereitschaft, die geforderte Summe
von 600 000 Dollar zu bezahlen.
Und Chaplin beauftragte Nathan Burkan, einen Vertrag
aufzusetzen, der ihn zu fünfzig Prozent am Gewinn beteiligte,
sobald die Firma ihre Unkosten eingespielt hatte. Fünf
Jahre sollte The Kid durch die First National vertrieben werden,
um dann, wie alle seine Filme, mit sämtlichen Rechten
an ihn zurückzufallen.
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