City Lights   1930   1931   1932   next   previous


City Lights Clippings 345/387

Edwin Arnet, Neue Zürcher Zeitung, Zürich, Schweiz, April 8, 1931.

Hotel and Cinéma Bellevue Building, airview by Spelterini,

Zürich, undated, wikimedia

& Cinéma Bellevue (at the left side) exterior by day, Zürich,

undated, postcard

& Cinéma Bellevue Building (at the left side), Zürich,

undated, detail 

& Hans Staub (photographer), Getreideernte am Bellevue,

Zürich 1942, Kunsthaus Zürich


„Trägt der Chaplin-Jude rettend ein wenig Psychologie herbei“

Editorial Content.

      City Lights – Lichter der Großstadt – opens in Switzerland

      April 10, 1931 in Zürich at the theatres Bellevue and Forum.    

      Cinéma Bellevue, Limmatquai 1/Bellevueplatz, Zürich.

      Cinéma Forum, Badenerstrasse 120/Langstrasse, Zürich.


Redaktioneller Inhalt. „Lichter der Großstadt

      At. Während der lyrische Clown Chaplin, ohne Melone

und Entenschuhe, durch die Welt reist, mit MacDonald

durch die Felder spaziert, Bernard Shaw die rare Hand schüttelt

und Orden in Hülle und Fülle bekommt, reist sein

neuester Film neben ihm her, der ein sanftes, wehmütiges

Märchen ist.“ (...)

      „Auch in diesem Film (den die Presseleute letzte Woche

im Bellevue-Kino sahen) steht die Literatur an letzter

Stelle; man wird verlegen, wenn man die Fabel zu erzählen hat.

Sie ist simpel bis zur Ungehörigkeit, und wo tausend

übliche Filme raffiniert komponierte Handlungen erzählen,

ist sie bei Chaplin ein minuziöses Gerippchen, ein

Einfall, der nach dem schwarzen Kaffee aufstieg, ein kleiner,

bescheidener literarischer Rülpser; aber um diese

Schäbigkeit – er liebt eine Blinde, die, wie sie wieder sehend

wird, sich über ihn lustig macht – blüht das wundervolle

Detail der Charakterzeichnung und sprudelt die Groteske, die

in ihren Nebensprüngen mitunter zur Burleske wird.

Chaplin ist eine besonders einzigartige Konstellation dreier

Fakten: er ist Jude, Humorist und (trotz der Geburt

in einem Schmutzwinkel Londons) Amerikaner. Ist Jude und kennt

das Raffinement der psychologischen Darstellungsweise,

ist Humorist und distanziert sich von allem Pathetischen, ist

Amerikaner und verschreibt sich dem Eindeutigen und

Primitiven. Die drei Figuren in ihm liegen nicht lax nebeneinander,

sondern sie hlten sich gegenseitig im Zügel, und wo die

eine sündigen will, springt die andere rettend mit ihrer Tugend

ein. Wo der Chaplin-Amerikaner zu primitiv sein möchte,

trägt der Chaplin-Jude rettend ein wenig Psychologie herbei,

und wo der Chaplin-Humorist sich zu burlesk gebärden

möchte, legt der Chaplin-Amerikaner sein Veto ein und bringt

das Rührende und Helle.“ (...)

      „Chaplin nimmt von dem Mädchen dieser automobil- und

dollarreichen Welt eine Blume entgegen, so scheu, daß

man meint, sie müsse aus purem Silber sein. In seinem Gesicht –

und hier hat die Film-Großaufnahme einmal Zweck –

mischen sich Verzicht und Liebe, man sieht durchaus diesen

Gedanken des Verzichts als eine mimische Welle und

sieht auch noch einmal das helle, warme Erstaunen vor der

Schönheit dieses blonden Rehs. Der Film hat hier die

schönste mimische Szene, die ein Film überhaupt hervorgebracht

hat. Sie ist stumm und zeugt machtvoll wider den

Sprechfilm. Sie ist kein happy-end (eben weil der Jude hier

dem Amerikaner rettend zu Hilfe springt); sie ist aber

auch nicht mit verworrenem Psychologismus getrübt (eben

weil hier der Amerikaner dem Juden rettend zu Hilfe

kommt). Sie ist vor allem schlicht, und ich denke, der Chinese

versteht sie so gut wie der Grönländer.“ (...)

      „Mit diesem Bild schließt die Fassung, wie man sie im

Bellevue sehen wird. Chaplin aber schloß seinen

Film mit einer Wanderung in die Weite, mit einem sehr weisen, melancholischen Weggang aus diesem Alltag, dem

er nicht gewachsen ist. Wer hat diesen besinnlichen Schluß

unterschlagen? Wer wollte mit dieser Kürzung

einen scheinbaren ,günstigen Ausgang‘ konstruieren? Wer‘s

getan hat, er gehört zehn Tage ins Gefängnis.“ (...)

      „Wie oft entläßt uns ein Film mit dem bitter-seifigen

Geschmack eines Pseudoerlebnisses, einer Talmiwirklichkeit;

hier gehen wir weg mit dem schönen, traurigen Märchen

vom Strolch, einem Millionär und einem Blumenmädchen, mit

dem Märchen, das ein Kluger erdacht und ein großer

Darsteller mit den simplen Mitteln von Gesicht, Händen und

Beinen und dem Reichtum eines ironischen Gemütes

gespielt hat.“

                                                            At. ist Edwin Arnet.

      „Er ist Jude“, „Ist Jude“, „Der Chaplin-Jude“, „der Jude

      hier dem Amerikaner rettend zu Hilfe springt“,

      „der Amerikaner dem Juden rettend zu Hilfe kommt“:

      Chaplin ist kein Jude.

      In der Schweiz läuft City Lights – Lichter der Großstadt

      am 10. April 1931 in den Kinos Bellevue und Forum in Zürich an.

      Cinéma Bellevue, Limmatquai 1/Bellevueplatz, Zürich.

      Cinéma Forum, Badenerstrasse 120/Langstrasse, Zürich.


City Lights   1930   1931   1932   next   previous






www.fritzhirzel.com


Chaplins Schatten

Bericht einer Spurensicherung