Chaplin at the camera, International Photographer, Jan. 1940
THE GREAT DICTATOR 2/5
Kino im amerikanischen Sektor – Chaplin gibt den
Friseur und den Diktator, der sich die Vernichtung der Juden zum Ziel gemacht hat. Es ist die treffendste Darstellung Hitlers, die es gibt. Zuletzt wendet Chaplin sich in direkter Rede ans Kinopublikum. Clippings.
Mitte Oktober 1940
Bosley Crowther, New York Times, 16. Okt. 1940
Jetzt, wo das Warten vorbei und der Schauder der
Spannung zuende ist, lasst Trompeten erschallen und Fahnen
am Himmel flattern. Denn der kleine Tramp, Charlie
Chaplin, trat letzte Nacht endlich hinter den streng bewachten Vorhängen hervor, die seine Aktivitäten für die letzten
zwei Jahre verborgen hielten, und präsentierte sich selbst
in triumphalen Glanz als The Great Dictator – oder
Sie wissen schon wer.
Kein Event in der Geschichte der Leinwand wurde je mit
mehr hoffnungsvoller Aufregung erwartet als die Premiere dieses
Films, der zeitgleich im Astor und Capitol Theatre
herauskam, kein FIlm versprach je zwingendere Folgen.
Die Aussicht, der kleine Charlot, die universell in aller
Welt am meisten geliebte Figur, verwende sein Supertalent
dazu den gefährlichsten lebenden Bösewicht lächerlich
zu machen, schaukelte sich zu einem titanischen Spass hoch,
zu einem transzendenten Paradox.
Und die glückliche Nachricht an diesem Morgen ist, dass
es herrlich herüberkommt. The Great Dictator ist möglicherweise
nicht der schönste Film, der je gemacht wurde – in der Tat
enthält er etliche enttäuschende Unzulänglichkeiten.
Aber ihnen zum Trotz erweist er sich als wahrhaftes
Meisterstück eines wahrhaft grossen Künstlers und aus einem
bestimmen Blickpunkt als der vielleicht wichtigste Film,
der je produziert wurde.
Um aber nicht falsch verstanden zu werden: es ist keine
billige Hanswurstiade, keine drollige, liebevoll humorige soziale
Satire in der Art von Chaplins früheren Filmen.
The Great Dictator ist in der Essenz ein tragischer Film –
oder ein tragikomischer im klassischen Sinn – und er hat streng
bittere Untertöne. Denn es ist die herzzerreissende Fabel
eines unglücklichen Haufens anständiger Leute in einem totalitären Land, der ganzen, hasserfüllten Unterdrückung, welche die
Humanität aus den menschlichen Seelen herausgepresst hat.
Und besonders ist es die durch genial inspirierte
Nachahmung vernichtende Enthüllung der tragischen
Schwächen, der schieren Aufgeblasenheit und gar des blanken Wahnsinns eines Diktators. Hitler, natürlich.
(... Hundert Druckzeilen später folgt, unter dem Posten
Unzulänglichkeiten, der Schluss des Films mit der Rede, in der
Chaplin sich direkt ans Publikum wendet:)
Darin tritt Chaplin aus seiner Rolle heraus und wendet sich
mit seinem Herzen ans Publikum. Der Effekt ist verwirrend, und
was der Höhepunkt sein sollte, wirkt flach und offenkundig
weinerlich.
Eine Woche später
Charles Chaplin, New York Times, 27. Okt. 1940
(In einem Brief an die New York Times verteidigt Chaplin
eine Woche, nachdem The Great Dictator herausgekommen
ist, seinen Film. Noch sei es möglich, sogar notwendig
über Hitler zu lachen, argumentiert er, denn Lachen sei letztlich
der „Gesundheit förderlich“. Der Film sei nicht
Propaganda, sondern er erzähle eine Story, und das Ende
sei gerechtfertigt.)
Für mich ist das ein logisches Ende der Geschichte.
Für mich ist das die Rede, die der Friseur gehalten hätte
– hätte er je eine halten müssen... Darf ich meine
Komödie nicht mit einer Notiz beenden, die ehrlich und
realistisch die Welt widerspiegelt, in der wir leben,
und kann man mich nicht entschuldigen, wenn ich für eine
bessere Welt plädiere?
Zwei Wochen später
Motion Picture Daily, New York, 1. Nov. 1940
United Artists verteidigte The Great Dictator gestern
Nacht nach einer Sendung von CBS Berlin Korrespondent
William L. Shirer, der von einer Behauptung im
deutschen Rundfunk berichtet hatte, der Chaplin Film
laufe vor „halbleeren Häusern“. U. A. verlangte
bei Reichspropagandaminister Doktor Goebbels höflich
eine Berichtigung.
Sechs Monate später
Weltwoche, Zürich, 4. April 1941
Auf dem langen Weg durch das Foyer, die Treppen und
Gänge des Theaters wurde man von Plakaten eskortiert, mit dem
Bild der klassischen Chaplin-Figur und der Aufschrift Die
Welt lacht wieder, und man stellte fröstelnd fest...
Vier Jahre später
Auswärtiges Amt, Berlin, 15. August 1944
Der Leiter des Reichsfilmarchivs
– Nr. 90 – Berlin, den 15. August 1944
Herrn Reichsminister
Betr: Ausleihung von Filmen,
die zur öffentlichen Vorführung nicht zugelassen sind
Auswärtiges Amt
The Great Dictator (amer. Hetzfilm mit Komödiencharakter, 1940)
Besichtigung durch den Herrn Reichsminister mit seinem Stab.
(Aussenminister ist Joachim von Ribbentrop.)
Ebenfalls vier Jahre später
New York Times, 1944
Im Oktober 1944 zeigten die Amerikaner The Great Dictator
im gerade befreiten Rom. Die Reaktion der geladenen
Römer fiel gedämpft aus. Nach dem Film ging das Publikum
„niedergeschlagen und wie betäubt aus dem Kino".
Lachen über The Great Dictator? „Die Menschen haben ihn lange bewundert und lassen sich heute nicht gerne sagen,
dass sie 24 Jahre lang einem Hanswurst nachgelaufen sind."
Sechs Jahre später
Time, New York, 19. August 1946
Angekündigt war der Film Kitty Foyle, der in Berlin als
Fräulein Kitty läuft. Die Menschen, die zu den
Kronen-Lichtspielen schlenderten, wollten lachen, auch
ein paar Tränen verdrücken, aber in erster Linie
wollten sie Deutschland vergessen.
Doch daraus wurde nichts, denn man hatte das Programm
geändert. Statt Kitty Foyle gab es The Great Dictator.
Die Deutschen lachten, als Chaplin in der Rolle des jüdischen
Friseurs einen Kunden zu Brahms-Musik rasiert. Sie
lachten über Chaplin als Diktator Hynkel, der einen Ballonglobus
umtanzt, bis dieser ihm ins Gesicht explodiert.
Aber mit der Zeit versiegte das Lachen, und in dem stickigen
Kino breitete sich erst peinliche, dann betroffene Stille
aus. Bei den KZ-Szenen lachte niemand mehr. Kaum war der
Film zuende, begann aufgeregtes Tuscheln.
Insgesamt war es für die Zuschauer ein Albtraum gewesen.
Über die Tragödie des Nazismus konnten sie nicht
lachen. Viel zu nahe war ihnen noch die Zeit, da sie selbst ihrem
Grossen Diktator zugejubelt hatten.
Le monde diplomatique, Paris, 10. Sept. 1999,
und Fritz Hirzel, Recherche in Berlin
Die Information Control Section ICS, ein Organ der
US-Besatzungsbehörde, wollte die Stimmung im Lande
erkunden. Sie hatte die Programmänderung in den
Kronen-Lichtspielen eingefädelt. Das Kino mit 496 Plätzen,
Inhaber Dr. R. F. Goldschmidt, gehörte zum
amerikanischen Sektor.
Nach der Vorstellung liess ICS Fragebogen verteilen.
Von 500 verteilten Fragebogen wurden 232 abgegeben. Zur
Frage Wie hat Ihnen der Film gefallen? ergab sich eine
hohe Zustimmungsquote. 84 Prozent bewerteten The Great
Dictator als „hervorragend" oder „gut“.
Mit der Zusatzfrage Soll der Film dem breiten Publikum
zugänglich gemacht werden? erhoffte sich ICS Hinweise
bei der Entscheidung, ob sie The Great Dictator in die deutschen
Kinos bringen sollte. 62 Prozent bejahten die Frage.
Nur: Was dachten die Zuschauer, die den Fragebogen
nicht ausgefüllt hatten? Falls ICS ihre Abstinenz als Ablehnung
interpretierte, hätte sich eine klare Mehrheit dagegen
ausgesprochen The Great Dictator in die deutschen Kinos
zu bringen.
Das Kino in Friedenau, notabene, war ein Schmuckstück.
In den Kronen-Lichtspielen „tragen Platzfräulein
zu ihrem schmucken roten Dress goldene Miniaturkronen
in ihrem Haar“, schreibt Der Spiegel am 8. Mai 1948.
Und: „Auch sonst ist es ein nettes Theater. Man kann sich
behaglich in weiche Sessel schmiegen, wenn auf der amerikanischen
Leinwand kaltblütig gekillt wird. Das ‚Theater der interessanten Uraufführungen‘ präsentiert oft strapaziöse Kriminalfilme.“
Das Kino an der Rheinstrasse 65 überlebte bis in die
1960er. Das Gebäude, Gründerzeitarchitektur, ist erhalten. In der Lokalität des Kinos, der Saal ein rückwärtiges Gebäude,
befindet sich 2010 die Trattoria dell arte. Hausgemachte Pasta. Steinofen-Pizza.
Zuletzt war es Le monde diplomatique gelungen,
sogar noch einen Augenzeugen der ICS-Befragung ausfindig
zu machen. George Clare, ein bei Cambridge in England
lebender, ehemaliger Publizist, kam in der deutschen Ausgabe
vom 10. September 1999 zu Wort.
1946 war George Clare – in Wien als Georg Klaar geboren,
seine jüdische Familie emigrierte 1938 – Kontrolloffizier
bei der britischen Militärverwaltung in Berlin. Zur Testvorführung
mit The Great Dictator luden ihn amerikanische Kollegen
in die Kronen-Lichtspiele ein.
George Clare sagte rückblickend. „Fragebogen waren
damals nicht populär, jeder musste ständig Fragebogen ausfüllen.
Die Deutschen hatten Angst: Was machen die da draus,
was passiert damit?"
Im Berliner Publikum gab‘s laut Clare zwei sehr
unterschiedliche Bedenken, die gegen The Great Dictator
vorgebracht wurden. Einer Minderheit war der Film
zu weit weg von der erlittenen Realität, der großen Mehrheit
trat er zu nahe.
Wer das Dritte Reich als Furcht und Elend erlebt hatte,
musste denken: Nein, der Film wird dem Ernst nicht gerecht.
Die anderen zeigten mit ihrer Reaktion, dass sie erst
gar nicht erinnert werden wollten. George Clare formulierte es so:
„Es war alles zu nahe der eigenen Hornhaut."
The Great Dictator Clippings
Flyer Charles Chaplin, Der grosse Diktator
Einführung, Diskussionsleitung Fritz Hirzel
Braunauer Zeitgeschichte-Tage
Filmgalerie, Bad Füssing, Deutschland, 25. September 2014