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The Gold Rush Clippings 353/363

Hans Siemsen, Weltbühne, Berlin, March 9, 1926.

Film Bühne GoldRausch (The Gold Rush)

Program, undated

& German The Gold Rush Revival Program, undated

& Four Goldrausch Posters


„Von Chaplin wird man reden. In tausend Jahren“

Editorial content.

      Goldrausch opens February 18, 1926

      at Capitol am Zoo, Budapester Strasse 42-46, Berlin.


Redaktioneller Inhalt. „Goldrausch von Hans Siemsen

      Vor einem halben Jahr bin ich diesem Film durch einen Teil Europas nachgereist. Ich sah ihn zuerst in Rom.

Es war aber der letzte Tag. In Mailänder Blättern war er noch

angezeigt. Also schnell nach Mailand! In zwei Tagen

viermal gesehen. Dann nach Zürich! Und nochmal zurück

nach Lausanne, wohin der Film von Zürich aus

gewandert war.

      Hinter welchem Drama, welchem Kunstwerk würde man

so herreisen? Ich – hinter keinem!

      Nun läuft dieser Film in Berlin – und ich bin nicht da. Zum

ersten Mal im Leben hab‘ ich Sehnsucht nach Berlin.

      –

      Die fünf Erdteile wetteifern in der Begeisterung über

diesen Chaplin-Film. Und die Berliner Filmkritik – die man auch

an der Riviera zu Gesicht bekommt – stimmt unisono

in den Jubel ein. Und sagt mit einem Mal so viel vernünftige,

kluge Sachen – dass einem wahrhaftig nichts

zu sagen übrig bleibt. Welch eine Wendung durch Gottes

Fügung!

      Ich erinnere mich an die Zeit, da – vor etwa vier

oder fünf Jahren – die ersten Chaplin-Filme zu uns kamen. Man

traute sich nicht recht. ,Diese Art von amerikanischem

Humor ist nichts für Deutschland!‘ sagten die ,Fachleute‘.

Und in der Filmkritik fand Chaplin seinen Platz

neben Damman und Leo Peukert: ,Den Schluss des Programms

machte eine jener amerikanischen Grotesken, über

deren Unsinn man wider Willen lachen muss. Man sollte aber

das deutsche Film-Lustspiel...‘ Das deutsche Film-

Lustspiel – siehe: Peukert und Damman! – ist inzwischen sanft

entschlummert. Und das Wort ,Unsinn‘ hat sich als

Druckfehler herausgestellt und wird heute mit ,Tiefsinn‘

übersetzt.

      –

      Über den Film selber könnte man ein Buch schreiben.

Aber Bücher soll man nur schreiben, wenn man ,muß‘,

nicht wenn man ,könnte‘. Was ich über Chaplin sagen ,mußte‘,

habe ich in der ,Weltbühne‘ schon vor drei Jahren

sorgfältig auseinandergesetzt.

      Es war sehr schön und hat mich sehr gefreut.

      –

      Dieser Film widerlegt so ziemlich alle Theorien, die sich

Film-Fachleute, -Kritiker und -Reformatoren bisher zurechtgelegt haben.

      Vor Allem die Theorie von der Wichtigkeit des Manuskripts.

      Chaplin hat, wie er selber sagt, nie ein Manuskript.

Noch viel weniger ein Szenarium mit ,Aufblenden‘, ,Abblenden‘,

,Großaufnahme‘. Er hat nur eine ,Idee‘. Alle Einzelheiten

ergeben sich nachher aus der Situation, während des Spiels,

vor dem Objektiv.

      Das soll man hier mal einem Regisseur erzählen!

,Arbeiten Sie Ihre Idee erst mal aus! Dann werden wir weiter

sehen.‘ Sie denken immer noch ans Theater und

haben nur in der Theorie, nicht in der Praxis begriffen, dass

der Film etwas ganz, ganz Andres, ja, etwas

Theaterfeindliches ist.

      Auch berühmte, erprobte Schauspieler gibt es – bis auf

Chaplin, der immer wieder herrlich wie am ersten Tag,

unter Aufbietung aller Intelligenz ,naiv‘, ohne Manier, wie zum

ersten Male spielt; nicht aus dem Atelier, sondern von

der Straße kommend – auch Schauspieler gibt es hier nicht.

Lauter unbekannte Leute.

      Was ist für Ausstattung, ,Aufmachung‘, Architektur

ausgegeben? Nicht ein Pfennig. Sieht so ein Alaska-Dorf aus?

Nie im Leben! Es gibt Leute, die Chaplin ganz gut

kennen; die sagen: er sei so geizig, dass er dies Dorf, samt

unmöglicher Kirche, von einer andern Film-Firma

übernommen habe, die es schon abgebraucht hatte. Möglich

ist es. Und Geiz ist keine Tugend. Aber richtig ist das

Gefühl, daß gar nichts drauf ankommt, ob das Goldgräber-Dorf,

wo diese märchenhafte Geschichte vor sich geht, ,echt‘

oder ,unecht‘ ist.

      Geld ausgeben? Wofür? Weshalb? Wenn man Chaplin

ist und eine ,Idee‘ hat...

      Geld gekostet haben nur die allerersten Szenen,

wo Hunderte, Tausende von Goldsuchern durch

verschneite Gebirgswege aufwärtsklettern, unaufhaltsam

vorwärtseilen, hasten, kämpfen. Tausend Statisten

nach Alaska bringen: das kostet Geld. Da ist Chaplin nicht

,geizig‘ gewesen. Er weiß warum. Diese Szenen

dauern zwei Minuten. Aber sie geben dem ganzen Film

einen Untergrund von Ernsthaftigkeit, einen

Untergrund von lebenswahrer, tragischer Wirklichkeit.

Nachher kann Märchen auf Märchen passieren –

der Anfang war ernst, lebenswahr und ,echt‘. Und kein

Mensch vergißt das.

      Diese selbe Sache von Anfang an komisch, scherzhaft,

märchenhaft genommen – und die Wirkung wäre nur

halb so tief und wahr. Man würde Alles nur halb glauben. Jetzt –

nach diesem Anfang – glaubt man Alles.

      Und dieser, der teuerste Teil des Films. dauert zwei

Minuten.

      –

      Was soll man sonst noch viel erzählen? Wem dieser Film

nichts sagt, mit dem möchte ich nie in meinem Leben

auch nur ein Wort reden. Es wäre Alles vergeblich. Ludendorff

und Hitler? Stresemann und Geßler? Sie lesen die

,Weltbühne‘ sowieso nicht. Und ich möchte auch nicht mit ihnen

reden. Die Andern? Wäre es nicht eine Beleidigung,

ihnen die schönsten Stellen dieses Films ,erklären‘ zu wollen?

Was ist da zu erklären? Ich möchte ihnen Allen nur

ganz kameradschaftlich sagen: Ich habe diesen Film zwölfmal

gesehen. Und wenn er hier, in Ospedaletti, am blauen,

tyrrhenischen Frühlingsmeer liefe – ich ginge jeden Tag noch

einmal hin. Auch wenn die Sonne schiene.

      –

      Es ist eine erstaunliche – und auch wieder nicht

erstaunliche Tatsache, daß man nach einigen Jahrhunderten

oder Jahrtausenden die größte, die wahre Blütezeit

jeder Kunst, jeder Technik in ihren Anfängen entdeckt.

      Der höchste Gipfel der Bildhauerei: Praxiteles?

Michelangelo? Nein: die frühen, namenlosen Griechen und

die Aegypter. Der Höhepunkt der Malerei: Tizian?

Raphael? Nicht einmal Rembrandt! Sondern: Giotto mit

seinen primitiven, der Materie abgerungenen Bildern.

Allererstes chinesisches, allerfrühestes Meißener Porzellan –

was hält daneben stand? Alles spätere ist ein raffinierter,

schöner, köstlicher Abstieg. Aber ein Abstieg! Nähere Beispiele:

Die ersten Lithographien von Senefelder, dem Erfinder.

Die ersten, allerersten Photographien – Daguerrotypen damals

genannt –: was sind dagegen die ungeheuer raffinierten,

mit zehnmal verbesserten Apparaten aufgenommenen von heute?

Lächerlich! Eine alberne, ambitiöse Kinderei!

      Der langen Rede nicht einmal ganz kurzer Sinn: Ich will

in jener, gewiss nicht bessern, aber andern Welt sein –

ein – nun, was? – ein Filmschaupieler sein, wenn man nicht

in tausend Jahren, im Zeitalter des Fernsehens, sagen

wird: ,Ja, damals – das war die Zeit von Chaplin, das waren

die Inkunablen des Films – damals war das eine Kunst.

Damals müssen die Menschen glücklicher und einfacher gewesen

sein als wir heute sind.‘

      Von dem ,Weltkrieg‘ wird kein Mensch mehr reden. Aber

von Chaplin wird man reden. In tausend Jahren.“


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Chaplins Schatten

Bericht einer Spurensicherung