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The Gold Rush Clippings 352/363
Hans Siemsen, Weltbühne, Berlin, March 9, 1926.
Hans Siemsen, Filmkritiker, undated
(...) Photo, Film & Schrift Band 15, München 2010
& Capitol, exterior by day, facade Charlie
Chaplin Goldrausch Der Neueste Chaplin Film, Berlin,
Deutsche Bauzeitung 1927
& Capitol, auditorium with ceiling from balcony,
Berlin, Deutsche Bauzeitung 1927
& Capitol, auditorium with stage from balcony,
Berlin, Deutsche Bauzeitung 1927
„Von Chaplin wird man reden. In tausend Jahren“
Editorial content.
Goldrausch opens February 18, 1926
at Capitol am Zoo, Budapester Strasse 42-46, Berlin.
Redaktioneller Inhalt. „Goldrausch von Hans Siemsen
Vor einem halben Jahr bin ich diesem Film durch einen Teil Europas nachgereist. Ich sah ihn zuerst in Rom.
Es war aber der letzte Tag. In Mailänder Blättern war er noch
angezeigt. Also schnell nach Mailand! In zwei Tagen
viermal gesehen. Dann nach Zürich! Und nochmal zurück
nach Lausanne, wohin der Film von Zürich aus
gewandert war.
Hinter welchem Drama, welchem Kunstwerk würde man
so herreisen? Ich – hinter keinem!
Nun läuft dieser Film in Berlin – und ich bin nicht da. Zum
ersten Mal im Leben hab‘ ich Sehnsucht nach Berlin.
–
Die fünf Erdteile wetteifern in der Begeisterung über
diesen Chaplin-Film. Und die Berliner Filmkritik – die man auch
an der Riviera zu Gesicht bekommt – stimmt unisono
in den Jubel ein. Und sagt mit einem Mal so viel vernünftige,
kluge Sachen – dass einem wahrhaftig nichts
zu sagen übrig bleibt. Welch eine Wendung durch Gottes
Fügung!
Ich erinnere mich an die Zeit, da – vor etwa vier
oder fünf Jahren – die ersten Chaplin-Filme zu uns kamen. Man
traute sich nicht recht. ,Diese Art von amerikanischem
Humor ist nichts für Deutschland!‘ sagten die ,Fachleute‘.
Und in der Filmkritik fand Chaplin seinen Platz
neben Damman und Leo Peukert: ,Den Schluss des Programms
machte eine jener amerikanischen Grotesken, über
deren Unsinn man wider Willen lachen muss. Man sollte aber
das deutsche Film-Lustspiel...‘ Das deutsche Film-
Lustspiel – siehe: Peukert und Damman! – ist inzwischen sanft
entschlummert. Und das Wort ,Unsinn‘ hat sich als
Druckfehler herausgestellt und wird heute mit ,Tiefsinn‘
übersetzt.
–
Über den Film selber könnte man ein Buch schreiben.
Aber Bücher soll man nur schreiben, wenn man ,muß‘,
nicht wenn man ,könnte‘. Was ich über Chaplin sagen ,mußte‘,
habe ich in der ,Weltbühne‘ schon vor drei Jahren
sorgfältig auseinandergesetzt.
Es war sehr schön und hat mich sehr gefreut.
–
Dieser Film widerlegt so ziemlich alle Theorien, die sich
Film-Fachleute, -Kritiker und -Reformatoren bisher zurechtgelegt haben.
Vor Allem die Theorie von der Wichtigkeit des Manuskripts.
Chaplin hat, wie er selber sagt, nie ein Manuskript.
Noch viel weniger ein Szenarium mit ,Aufblenden‘, ,Abblenden‘,
,Großaufnahme‘. Er hat nur eine ,Idee‘. Alle Einzelheiten
ergeben sich nachher aus der Situation, während des Spiels,
vor dem Objektiv.
Das soll man hier mal einem Regisseur erzählen!
,Arbeiten Sie Ihre Idee erst mal aus! Dann werden wir weiter
sehen.‘ Sie denken immer noch ans Theater und
haben nur in der Theorie, nicht in der Praxis begriffen, dass
der Film etwas ganz, ganz Andres, ja, etwas
Theaterfeindliches ist.
Auch berühmte, erprobte Schauspieler gibt es – bis auf
Chaplin, der immer wieder herrlich wie am ersten Tag,
unter Aufbietung aller Intelligenz ,naiv‘, ohne Manier, wie zum
ersten Male spielt; nicht aus dem Atelier, sondern von
der Straße kommend – auch Schauspieler gibt es hier nicht.
Lauter unbekannte Leute.
Was ist für Ausstattung, ,Aufmachung‘, Architektur
ausgegeben? Nicht ein Pfennig. Sieht so ein Alaska-Dorf aus?
Nie im Leben! Es gibt Leute, die Chaplin ganz gut
kennen; die sagen: er sei so geizig, dass er dies Dorf, samt
unmöglicher Kirche, von einer andern Film-Firma
übernommen habe, die es schon abgebraucht hatte. Möglich
ist es. Und Geiz ist keine Tugend. Aber richtig ist das
Gefühl, daß gar nichts drauf ankommt, ob das Goldgräber-Dorf,
wo diese märchenhafte Geschichte vor sich geht, ,echt‘
oder ,unecht‘ ist.
Geld ausgeben? Wofür? Weshalb? Wenn man Chaplin
ist und eine ,Idee‘ hat...
Geld gekostet haben nur die allerersten Szenen,
wo Hunderte, Tausende von Goldsuchern durch
verschneite Gebirgswege aufwärtsklettern, unaufhaltsam
vorwärtseilen, hasten, kämpfen. Tausend Statisten
nach Alaska bringen: das kostet Geld. Da ist Chaplin nicht
,geizig‘ gewesen. Er weiß warum. Diese Szenen
dauern zwei Minuten. Aber sie geben dem ganzen Film
einen Untergrund von Ernsthaftigkeit, einen
Untergrund von lebenswahrer, tragischer Wirklichkeit.
Nachher kann Märchen auf Märchen passieren –
der Anfang war ernst, lebenswahr und ,echt‘. Und kein
Mensch vergißt das.
Diese selbe Sache von Anfang an komisch, scherzhaft,
märchenhaft genommen – und die Wirkung wäre nur
halb so tief und wahr. Man würde Alles nur halb glauben. Jetzt –
nach diesem Anfang – glaubt man Alles.
Und dieser, der teuerste Teil des Films. dauert zwei
Minuten.
–
Was soll man sonst noch viel erzählen? Wem dieser Film
nichts sagt, mit dem möchte ich nie in meinem Leben
auch nur ein Wort reden. Es wäre Alles vergeblich. Ludendorff
und Hitler? Stresemann und Geßler? Sie lesen die
,Weltbühne‘ sowieso nicht. Und ich möchte auch nicht mit ihnen
reden. Die Andern? Wäre es nicht eine Beleidigung,
ihnen die schönsten Stellen dieses Films ,erklären‘ zu wollen?
Was ist da zu erklären? Ich möchte ihnen Allen nur
ganz kameradschaftlich sagen: Ich habe diesen Film zwölfmal
gesehen. Und wenn er hier, in Ospedaletti, am blauen,
tyrrhenischen Frühlingsmeer liefe – ich ginge jeden Tag noch
einmal hin. Auch wenn die Sonne schiene.
–
Es ist eine erstaunliche – und auch wieder nicht
erstaunliche Tatsache, daß man nach einigen Jahrhunderten
oder Jahrtausenden die größte, die wahre Blütezeit
jeder Kunst, jeder Technik in ihren Anfängen entdeckt.
Der höchste Gipfel der Bildhauerei: Praxiteles?
Michelangelo? Nein: die frühen, namenlosen Griechen und
die Aegypter. Der Höhepunkt der Malerei: Tizian?
Raphael? Nicht einmal Rembrandt! Sondern: Giotto mit
seinen primitiven, der Materie abgerungenen Bildern.
Allererstes chinesisches, allerfrühestes Meißener Porzellan –
was hält daneben stand? Alles spätere ist ein raffinierter,
schöner, köstlicher Abstieg. Aber ein Abstieg! Nähere Beispiele:
Die ersten Lithographien von Senefelder, dem Erfinder.
Die ersten, allerersten Photographien – Daguerrotypen damals
genannt –: was sind dagegen die ungeheuer raffinierten,
mit zehnmal verbesserten Apparaten aufgenommenen von heute?
Lächerlich! Eine alberne, ambitiöse Kinderei!
Der langen Rede nicht einmal ganz kurzer Sinn: Ich will
in jener, gewiss nicht bessern, aber andern Welt sein –
ein – nun, was? – ein Filmschaupieler sein, wenn man nicht
in tausend Jahren, im Zeitalter des Fernsehens, sagen
wird: ,Ja, damals – das war die Zeit von Chaplin, das waren
die Inkunablen des Films – damals war das eine Kunst.
Damals müssen die Menschen glücklicher und einfacher gewesen
sein als wir heute sind.‘
Von dem ,Weltkrieg‘ wird kein Mensch mehr reden. Aber
von Chaplin wird man reden. In tausend Jahren.“
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